Nach zehn Jahren im Glauben (mehr oder weniger) scheinen mir die Menschen, die ich kenne oder von denen ich aus verschiedensten Informationsquellen weiß, zum größten Teil nach zwei Dingen zu streben. Beide geben dem Menschen aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln eine unmittelbare Zukunftsperspektive. In der Reihenfolge ihres Erscheinens in der Entwicklung des individuellen Menschen sind diese:
1. die Suche nach Geborgenheit und Bewahrung. Geborgenheit im Sinne eines Zustands, in dem man loslässt und abgibt; im positiven, christlichen Sinn ein Zustand, in dem man nicht mehr den Drang hat, irgendetwas für sich festzuhalten, weil man sich selbst vollkommen gehalten und getragen fühlt.
Beispiele finden sich im Glauben praktisch überall:
Psalm 121
Röm 12,19
und viele mehr.
Dieses Streben äußert sich darin, dass der Mensch sich unterzuordnen sucht. Die größten Tugenden sind Geduld und Demut, alles, was nach Einfluss oder Geltung sucht, ist böse (siehe auch Mk 10,43)
2. das Streben nach Macht bzw. Einfluss. Es ist in vielen Dingen das genaue Gegenteil des ersten; statt alles abzugeben, sucht der Mensch, sich alles zu nehmen, was er irgendwie bekommen kann. Aus christlicher Sicht nimmt er sich damit alle Freiheit, denn nun ist er gezwungen, das alles festzuhalten, was ihm eigentlich gar nicht zusteht; so bindet ihm der Teufel die Hände.
Dieser Mensch sieht den Demütigen und Gläubigen nur als ein leichtes Opfer, das sich selbst schon gefesselt hat, um es dem Machtmenschen leicht zu machen, ihn zu überwältigen. So überspitzt formuliert und beschrieben ist es natürlich einfach, diese Motivation als böse zu erkennen, aber diese dunkle Seite steckt in uns allen und kann vielerlei Gestalt annehmen. Ebenso wie ein Verfolger und Machtmensch wie Saulus, der sich an seiner weltlichen und pharisäischen Bildung festhielt, um sich über andere zu erheben, in der Wüste vom Licht berührt werden konnte, kann es auch in der umgekehrten Richtung passieren.
In diesem Spannungsfeld, das durch den Sündenfall entstanden ist, muss jeder Mensch seinen Platz finden, da er beide Seiten immer in sich hat. Er hat zu entscheiden, wem er Raum in seinem Geist geben möchte, und dazu muss er sie unterscheiden können. Diese Entscheidung ist kein einmaliger Prozess, sondern er dauert so lange wie unser Leben in dieser Welt.
Es gibt ein drittes Streben, das aus meiner Sicht oft vernachlässigt wird. Es ist das Streben nach Verstehen und Erkenntnis. Diese "Neugier" sehe ich sowohl als Stärke denn auch als Schwäche. Sie treibt uns dazu, unseren Verstand zu benutzen, um die Welt zu verstehen, und der mit ihr eng verwandte Erfindergeist hat uns Dinge gebracht wie den Buchdruck. Andererseits steckt im Wort "Neugier" das Wort "Gier". Schon bei Adam und Eva war sie ein Teil jener menschlichen Schwäche, die sie dazu brachte, der Schlange zuzuhören. Der Sündenfall begann aber erst, als sie den falschen Worten Glauben schenkten. Alles, was man von der Welt und über die Welt erfährt, muss vom Geist genau auf seinen Wahrheitsgehalt geprüft werden, aber das bedeutet nicht, dass ein Christ sich von der Welt abschotten sollte. Ich habe Menschen, die dem Licht sehr nah, also tief gläubig sind, oft als weltfremd erlebt; nicht selten war diese Entfremdung so stark, dass sie zu Intoleranz wurde.
Ein Beispiel, das mir als naturwissenschaftlich vorgeprägtem Menschen besonders aufgefallen ist, ist die Haltung zur modernen Wissenschaft, speziell zur Evolutionsbiologie. Nach meinem Empfinden schmälern viele "Kreationisten" die Genialität Gottes, wenn sie die Evolution der Arten als Irrlehre ablehnen; doch es braucht schon einen wirklich genialen Gott, um einen solchen Mechanismus zu bauen, den die Biologen bis heute in vielen Aspekten noch nicht vollständig verstanden haben.
Die Methodik der Wissenschaft ist atheistisch, aber wer sie deshalb verteufelt, verkennt den eigentlichen Grund für diese Vorgehensweise, nämlich dass die Wissenschaft ihre Grenzen kennt. Sie ist darauf beschränkt, Erkenntnisse über die Schöpfung zu erlangen, nicht aber über den Schöpfer. Wo Gott direkt wirkt, hat sie keinen Platz mehr, und durch die atheistische Mathodik wird wirksam verhindert, dass sie Erklärungen in Bereichen sucht, die rein menschlicher Erkenntnis verschlossen sind. Sie sollte dann allein dazu deinen, Einblick in Gottes wunderbare Schöpfung zu gewinnen. Die Evolutionsbiologie ist hier nur ein Beispiel; ein anderes wäre die Physik, die das Alter und die Struktur des materiellen Universums zu bestimmen sucht, oder die Psychologie, die sich mit den Mechanismen innerhalb des menschlichen Geistes beschäftigt.
So betrachtet werden die Naturwissenschaften und ihre Methoden und Erkenntnisse zu Gegenständen, zu Werkzeugen, die von guten Menschen zum Guten und von bösen Menschen zum Bösen genutzt werden können. In manchen Bereichen ist dieser Zwiespalt so stark, dass der Teufel ihn nutzen kann, um Menschen zu entzweien. Auf der einen Seite Atheisten, die die Evolutionslehre benutzen, um ihre Irrlehre von der Nicht-Existenz Gottes zu verbreiten (mit der Aussage, es könne ja alles, bis hin zum Menschen, allein aus Zufall und Selektion erklärt werden), andererseits verbohrte Kreationisten, die die ganze Wissenschaft ablehnen und so glaubensferne, aber offene, wissenschaftlich geprägte Menschen erst zum Atheismus treiben.
Sich von solchen (zugegeben weltlichen und nicht biblisch fundierten) Erkenntnissen komplett abzuwenden, ist, als würde man sich ein kleines Reich Gottes für sich aufbauen und es mit dicken Mauern vor der Außenwelt schützen. Die Menschen in der Welt, die Gott noch nicht gefunden haben, sehen dann statt des Lichts nur noch eine dicke Mauer. Besser ist es aus meiner Sicht, einen offenen Geist zu bewahren. Mutiger ist es auf jeden Fall.
Als Fazit möchte ich folgenden Satz als Rat setzen:
Hüte dich vor dem Bösen, aber hüte dich auch davor, so gut zu werden, dass du das Böse nicht mehr erkennen oder verstehen kannst. Dann wird es dich nämlich von hinten überwältigen, ohne dass du es merkst.
Manche Christen sind aus meiner Sicht Opfer dieser "geistlichen Betriebsblindheit", die sich in einem intoleranten Verhalten äußert, das geeignet ist, Menschen mit weniger intensivem Glauben und mehr weltlichem Menschenverstand vom Glauben wegzustoßen, statt sie für Gott zu gewinnen.
© Christian Schmadalla, 20.10.2010